Der Digital Native, das unbekannte Wesen (Social-Web-Irrtümer 3)


Ich verbrachte vor einigen Jahre ganze Samstage mit Digital Natives, nein, nicht nur mit meinen Kindern. Mit fremden jungen Menschen, die "irgendwas mit Medien" studieren und in meiner, nein eine Vorlesung ist es nicht, meinem Seminar zum kreativen Schreiben waren. Neben dem gemeinsamen Arbeiten an Texten und dem Rumklopfen an Sprache und an unseren Hirnen gibt es auch die Mittagspausengespräche.

Die meisten machen sich vom Acker, was prima und OK ist. Manche bleiben und man redet beim mitgebrachten Lunch – es gibt an der HDM in Stuttgart zwar Samstagsseminare, aber nichts, wo man in weniger als 10 Minuten Entfernung Essbares kaufen könnte.

Jedenfalls sprachen wir über den Studiengang "Media Publishing", der wohl faktisch ein Studium für Leute ist, die "was im Verlag machen" wollen. Diesmal hatten wir es von der Handy-Sucht, vom asozialen "ins Smartphone starren in der Kneipe oder wenn man sonst zusammensitzt" und vom Digital Native als solchen.

Nun hänge ich ja nicht allein zum Lehren Samstags von 10 bis 17 Uhr an Hochschulen rum sondern auch zum Lernen. Ich streue also meine These ein, dass es den Digital Native, so wie er gern verstanden wird, als mit allen digitalen Wassern gewaschenen Allround-Medienkompetenzler mit Geburtstdatum nach 1980, dessen Kompetenz-Level wir "Digital Immigrants" niemals erreichen werden, dass es dieses Wundertier also ganz einfach nicht gibt.

Und zu meiner Überraschung ernte ich die Zustimmung der Betroffenen: "Klar, bloß weil man die ganze Zeit diese Medien nutzt, hat man noch lange keine Ahnung davon." Das passte zu meiner Info, dass selbst diejenigen, die sich an der selben Hochschule im Schwerpunkt mit Online-Kommunikation befassen, in der allergrößten Mehrzahl weder bloggen noch twittern. Es passt auch zu vielen unfreiwillig mitgehörten Zug- oder U-Bahn-Gesprächen, bei denen ein "Und seit neustem twittert sie." etwa dem "Und dann ist sie nach Indien abgehauen." der 70er und 80er entspricht.

Auch ein anderer Mythos ließ sich in meinem samstäglichen Gespräch – zumindest lokal – entkräften. Aus Zeitung und Erzählungen ("Freunde von Freunden machen es so", "im Bekanntenkreis meiner Tochter ist üblich") hörte ich in letzter Zeit, dass das Handystapeln sich unter Digital Natives größter Beliebtheit erfreue. Wenn man in einer Kneipe beisammensitzt, werde angeblich aus den Smartphones ein Stapel gebildet und wer der erste ist, der vor der Auflösung der Runde sein Smartphone an sich nimmt um einen Anruf zu beantworten oder Facebook zu checken, der bezahlt eine Runde – oder gar die Rechnung.

Meine Studierenden jedenfalls hatten von dieser angeblichen Sitte der Digital Natives nichts gehört, beklagten sich aber darüber, dass inzwischen Kneipengespräche, oder ein mehrstündiges klönendes Zusammensitzen bei einer Flasche Wein in der Tat der Vergangenheit angehören, da einem per Handygebrauch immer signalisiert werde, dass man selbst nicht ganz so interessant sei wie die Menschen, die dort den Bildschirm bevölkern.

Die Studierenden wussten auch die finale Lösung: die "offline Biergläser": ein Bierglas, das nur auf einem Smartphone "richtig steht" und sonst kippt.

So, und jetzt? Warum soll es keine Digital Natives geben? Weil sie ein Beobachtungsirrtum sind. Es wird Nutzung mit Kompetenz verwechselt. Als ob ich, weil ich Auto fahre, auch eines bauen könnte, oder einen Motor verbessern könnte. Bloß weil ich weiß, wie ich mich in Facebook einlogge, heißt das nicht, dass ich auch die Kompetenz habe, dort meine Privatsphäre zu schützen oder gar Marketing für meine Firma zu machen.

Den jüngsten Mitarbeiter zum Social Media Manager oder Community Manager zu machen wäre vergleichbar damit, den mit einem Führerschein zum Chef des Fuhrparks zu befördern oder ihn Autos reparieren zu lassen. Ja, natürlich haben einige junge Menschen tolle Fähigkeiten in der Onlinekommunikation, tausende Twitterfollower, einen Youtubekanal und ein Blog, das ihnen den Urlaub verdient. Aber die Quote der jungen Menschen, die so etwas tun, ist genau so hoch wie bei den älteren. Das sind anekdotische Einzelfälle. Dass Onlinekompetenz mit der umgebenen Kultur eingesogen wird, entlarvt sich allein dadurch als Irrtum, dass die Kinder der Zeitungsgeneration auch nicht alle zu Journalisten geworden sind – nur einzelne. Und die Fernsehkinder der 80er müssten eigentlich allesamt Moderatoren, Schauspieler oder Regisseure und Drehbuchautoren geworden sein. Oder zumindest entsprechende Fähigkeiten besitzen. Will sagen: Man wird nicht so leicht vom Konsumenten zum kompetenten Macher.

Hier nun die Anekdote, die ich allen erzähle, die vorgeben, aus Altersgründen da nicht mehr mitmachen zu wollen. 1989 ging ein Kapitänsleutnant in Ruhestand. Er war ein rüstiger, geistig reger Herr und nahm sich als Ruhestandsprojekt vor, ein Buch zu schreiben. Das Thema war bald gefunden: es sollte der Mauerfall sein. Er machte sich kundig, wie hier vorzugehen sei, und man sagte ihm, ein Verlag würde ein Manuskript auf Papier nicht akzeptieren, es müsse auf Diskette und am Rechner geschrieben sein. Er arbeitete sich also in DOS und Word ein und schrieb sein Buch. Ob es je erschienen ist, weiß ich nicht. Aber ich kann sagen, wo ich ihn danach traf: Er wurde Dozent an der Universität Konstanz und brachte den Studierenden den Umgang mit Word und Excel bei. Ja, ein Sonderfall. Aber kein seltener. Erst kürzlich begegnete mir in einen Google-Hangout ein rumänischer Immigrant, der die 70 überschritten hatte und erst seit sechs Monaten einen Computer besaß. Es gibt keine Ausrede.

Und warum hält sich dann der Mythos von der Existenz der Digital Natives? Weil er bequem ist. Er entlastet den vor 1980 geborenen in zwei Fällen: In dem, dass er verstehen müsste, was junge Menschen, die gleichzeitig chatten, simsen und fernsehen, eigentlich gerade tun. Und in dem, dass er sich verstehend mit dem (Social-)Web auseinandersetzen müsste, wo er erkennen müsste, dass alle Konsumenten andere Ansprüche an die Dialogfähigkeiten von Unternehmen haben und nicht nur Konsumenten unter 30. Dazu gehört auch der Mythos, den wir uns getrennt vornehmen, dass Facebook nur von jungen Menschen bevölkert wird.

Die Fiktion, dass es den Digital Native gibt, der all die schwierigen Dinge, die es zu können und zu wissen gibt, schon kann und weiß, und die Fiktion, dass man den niemals einholen kann und wird, dient schlicht und einfach als Ausrede, um sich mit Social-Web-Kommunikation nicht befassen zu müssen, weil sie altgewohnte Denkmuster und Geschäftsmodelle auf den Kopf stellt. Musik- und Filmindustrie haben sich – jeweils zu spät – angepasst. Die Buchindustrie redet seit 10 Jahren vom E-Book, zeigt es auf der Buchmesse her und weist kaum fünf bis zehn Prozent Marktanteil vor. Man kann im Denken und Hoffen auch weiter sein als die Digital Natives.

Wenn eines den nach 1980 geborenen auszeichnet, ist es sein Mangel an Geschichtsbewusstsein und Phantasie. Der Witz "Wie seid ihr eigentlich ins Internet gegangen, als es noch keine Computer gab", steht hier stellvertretend für das Bild einer Generation vom Netz, die eine Vor-Online-Welt gar nicht mehr kennt.

Zu unterscheiden ist vielmehr zwischen drei Gruppen, den "A-Digititalen", die gar nicht online sind. Dem "Digital Visitor", der durchaus auch eBay und Amazon nutzt, das Wetter nachschlägt, Öffnungszeiten googelt und sich mit Telefonbuch.de auskennt, und dem "Digital Resident", für den die digitale Welt nicht "virtuell" ist, sondern Teil seiner alltäglichen Kommunikation und seiner sozialen Umwelt.
Das ist aber keine Kategorisierung, die altersabhängig wäre. Es gibt keine digitale Gnade der späten Geburt. Und: Die Menschen, die das Netz – auch un vor allem vor dem WWW – gebaut haben, sind inzwischen durchweg im Ruhestand und oft auch schon gestorben. Das wären die Digital Pioneers.

Tun Sie also uns allen einen Gefallen: Quittieren Sie die nächste Erwähnung der "Digital Natives" mit einem Unmutsausruf oder mindestens mit einem dezidierten Kopfschütteln.

Kommentare